Ein Feuer der Faszination

Ich wurde während der letzten Jahre nicht selten von Kommilitonen, Professoren und Bekannten stirnrunzelnd gefragt, wie sich mein Glaube mit einem Physikstudium vereinbaren ließe. Für einige war dies ein schlichtweg unmöglicher Gedanke, ein Widerspruch in sich, wo doch die Wissenschaft rein rational orientiert ist und der Glaube nichts mit der Vernunft am Hut hat. Diesem Vorurteil begegnete ich in ganz unterschiedlichen Kontexten, am häufigsten jedoch erlebte ich diese Diskussion, wenn es um den muslimischen Glauben ging.

Natürlich bedarf der Glaube an einen sinnlich nicht fassbaren Gott eine gewisse Grundüberzeugung, die nicht gänzlich rational zu erklären ist- gerade das macht ja auch einen Glauben aus. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass gläubige oder religiöse Menschen die Vernunft als etwas Unbrauchbares oder gar Verwerfliches betrachten, im Gegenteil. Im Islam wird dem Wissen bzw. der Bildung eine sehr große Rolle zugeschrieben. Sowohl im  Koran als auch in vielen Überlieferungen wird die allgemeine Gelehrsamkeit als Pflicht für jeden Muslim beschrieben, für die selbst große Entfernungen in Kauf genommen werden sollen. Es gibt eine sehr bekannte Überlieferung, die dies sehr schön zum Ausdruck bringt :

„Strebe nach Wissen, auch wenn du dafür bis nach China reisen müsstest.“

Hierbei ist nicht nur religiöses Wissen gemeint, sondern alles Mögliche, das Erkenntnisse und Fortschritt bringt- sei es für einen persönlich oder für die Gesellschaft. Und dazu zählt für mich vor allem die Wissenschaft und insbesondere die Königsdisziplin der Wissenschaft: Die Physik. (Einige Wissenschaftler aus anderen Bereichen werden hier vermutlich verärgert einhaken, aber ich komme nicht umhin, der Physik einen besonderen Status einzuräumen.)

Ich kann mich an einen Schlüsselmoment erinnern, der in mir ein gewisses Feuer der Faszination für die Physik entfachte. Es war eine Passage aus dem Eingangsmonolog aus Goethes Faust, den wir damals im Deutschunterricht behandelten:

„Dass ich nicht mehr mit saurem Schweiß

Zu sagen brauche, was ich nicht weiß;

Dass ich erkenne, was die Welt

Im Innersten zusammenhält“

Für mich verkörperte Fausts dargestellte Sehnsucht nach Erkenntnis das Urwesen menschlichen Seins. Ich erkannte darin mein eigenes Suchen und Streben wieder, das zu der Zeit noch relativ ziellos war und konnte mich mit diesem aufrichtigen Durst nach tiefer Erkenntnis mehr als nur identifizieren. Dieser kurze Textausschnitt berührte mich so sehr, dass ebenjene Erkenntnis dessen, was „die Welt im Innersten zusammenhält“, mein größtes Ziel, mein innigster Wunsch wurde- und somit auch neben der Philosophie eines meiner Studienfächer. Trotz oder gerade wegen meines Studiums bleibt für mich das Universum in all seiner Abgestimmtheit und Harmonie ein Wunder der göttlichen Schöpfung. Die Vorgänge der Natur präzise beschreiben zu können ist daher in meinen Augen ein wertvolles Geschenk, eine Gabe, die wir auch nutzen SOLLEN. Das Betreiben von Wissenschaft gleicht einem  Loblied auf  die Schöpfung, den Verstand und die Vernunft, und das Nutzen der gottgegebenen Fähigkeiten stellt nichts geringeres als einen Ausdruck tiefer Dankbarkeit gegenüber Dem, Der dies ermöglichte, dar. Für mich ist das Göttliche nicht nur über spirituelle Erfahrungen, sondern ebenso durch die Schönheit des Rationalen erkennbar: Gott liegt in der Eleganz der Mathematik, in der Komplexität der Physik und in der Eindeutigkeit der Logik. Man kann Gott überall finden. Nicht umsonst spielt das bewusste Nachdenken und Reflektieren über all das, was um uns herum ist, eine essentielle Rolle im islamischen Glauben.

Solch eine religiös geprägte Sicht auf die Wissenschaft teilen heutzutage nicht viele Menschen, da ein großer Teil entweder nicht religiös ist oder Glaube und Wissenschaft in einer gewissen Weise voneinander getrennt werden- etwa so, wie man auch Persönliches von Beruflichem trennt. Mich persönlich erinnert ein religiös geprägter Ansatz an wichtige Werte, die in der Wissenschaft tendenziell immer mehr schwinden: Bescheidenheit, Demut gegenüber der Natur und Strebsamkeit um des Wissens statt des Erfolges willen. Meiner Meinung nach sind diese Eigenschaften sehr zentral für wissenschaftlichen Fortschritt. Schon einmal stand die Wissenschaft vor der hochmütigen Verkündung, die gesamte Natur endgültig erkannt und beschrieben zu haben und die Physik abschließen zu können, doch dann kam die Quantenphysik und das gesamte damalige Weltbild wurde innerhalb weniger Jahre gänzlich auf den Kopf gestellt.

Ich wünschte, ich hätte all das bereits in früheren Gesprächen sagen können. Tatsächlich wurde mir all das erst richtig bewusst, als ich mich mit dem Zeitalter beschäftigte, in dem die Wissenschaft in ihren Anfängen steckte und maßgeblich durch muslimische Gelehrte mit vorangetrieben wurde: das Mittelalter. Viele assoziieren das Mittelalter vermutlich mit Krankheit, Unwissen und Elend. Die arabisch-asiatische Region erfuhr jedoch zu genau dieser Zeit ein Hoch an Gelehrsamkeit, Kultiviertheit und Fortschrittlichkeit in allen  möglichen Bereichen- unter anderem in der Physik. Die dafür verantwortlichen genialen Persönlichkeiten haben bahnbrechende und extrem wichtige Entdeckungen geliefert; viele sind aber in der westlichen Welt dennoch weitestgehend unbekannt, da die meisten Leistungen anderen westlichen Gelehrten zugeschrieben wurden und viele Schriften bis heute unerforscht sind. Wie groß das Ausmaß dieses Unrechts ist, erkennen wir bspw. bei der Betrachtung der Leistungen von Ibn al Haytham und al Biruni, zwei Physiker des 1. Jahrtausends n. Chr., deren Erkenntnisse ebenso revolutionär waren wie die eines Galilei oder Newton. Diese beiden waren auch jene, die die wissenschaftlich-induktive Methodik, wie wir sie heute kennen, begründeten.

Bis heute finden diese Tatsachen leider keinen Platz in der schulischen und universitären Lehre. Umso faszinierter und begeisterter war ich, als ich (nach sehr langer Zeit) auf dieses gar vergessene Zeitalter der muslimischen Gelehrsamkeit stieß. Das Wissen um diese Perönlichkeiten trug maßgeblich zu meiner Identität und meinem Selbstverständnis als Schülerin der Wissenschaft bei. Physiker wie Ibn Al Haytham und Al Biruni inspirieren mich tagtäglich dazu, der Welt die Liebe zum Wissen in all ihrer Schönheit zu präsentieren- oder zumindest dazu einzuladen, sei es auch nur mittels meiner geteilten Faszination für all das, was um uns herum geschieht…

Mehr über die Entdeckungen muslimischer Gelehrter des Mittelalters erfahrt ihr im nächsten Blogeintrag. 🙂

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