Beben der Unmenschlichkeit

Ich hatte mir vorgenommen, keine Gedanken mehr zu erschütternden Ereignissen zu äußern, die auf der Welt passieren. Tagtäglich ereignen sich so viele Tragödien, dass ich all diesen Ereignissen gar nicht gerecht werden könnte, dass ich nicht allen ihre verdiente Aufmerksamkeit und Würdigung schenken könnte. Es wäre irgendwie unfair, nur einige, meist ohnehin schon bekannte Geschichten herauszupicken und andere Geschehnisse ungehört zu lassen. Vor allem hätte ich aber auch nicht die Kraft. Und schon gar nicht ein ausreichend dickes Fell.

Aber hier sitze ich nun, die Tränen unterdrückend, entsetzt, verletzt und wütend. Mit einem unglaublichen Gefühl der Machtlosigkeit und mein gesamtes Leben infrage stellend. Denn ich sitze hier gemütlich im Bett, geschützt und in Sicherheit, mit Keksen von meiner Oma und einer aufgeräumten Wohnung; in Feststimmung am heiligsten Tag der Woche, mit meinen Liebsten. Mein Herz ist zerrissen zwischen diesen beiden Realitäten, die so unendlich weit voneinander entfernt liegen, so unvereinbar sind.

Die Geschehnisse in Palästina treffen mich mehr denn je ins Herz. Sie treffen mich in erster Linie als Mensch. Aber auch als Muslima und gleichzeitig als jemanden mit Wurzeln im Nachbarland und einer Familie, die selbst spüren musste, was es bedeutet, unter israelischem Beschuss zu stehen und zu sterben. Es ist ein sehr emotionales Thema für mich und es fällt mir schwer, in all meiner Wut und Betroffenheit Worte zu finden. Aber gleichzeitig muss ich irgendwie all das, was sich in mir angestaut hat, loswerden.

Trotz der Emotionalität, die zwangsweise mit einer solchen Thematik und dem dazugehörigen umfangreichen Bild- und Videomaterial, das man findet, einhergeht, ist es nicht schwer rational einzusehen, dass der israelische Staat seit Jahrzehnten die palästinensischen Menschen systematisch unterdrückt, diskriminiert und sie durch ihre Siedlungspolitik ihrer Besitztümer beraubt. Der isolierte Gaza-Streifen unterliegt immensen Restriktionen, die soweit gehen, dass dort fließend Wasser und Strom täglich lediglich für einige Stunden (manchmal auch gar nicht) zur Verfügung stehen und die Einfuhr von wichtigen Waren wie Baustoffen, Medikamenten und Nahrungsmitteln von Israel kontrolliert und aktiv begrenzt wird. Unzählige Checkpoints, die durch israelische Kräfte bewacht werden, gestalten die Ein- und Ausreise aus oder in den Gazastreifen oder in von Palästinensern bewohnte Gebiete mehr als schwierig- selbst wenn man als deutscher Tourist seine Familie dort besuchen möchte. Diese und noch viele weitere Dinge sind schlichtweg Fakten, auf die zwar glücklicherweise immer mehr Menschen aufmerksam machen, dennoch von einem großen Teil immer noch als „übertrieben“, „einseitig“ oder „emotional verzerrt“ betitelt werden. Dabei sprechen Organisationen wie die Human Rights Watch sogar von einem Apartheid-System, das in Israel gelebt und durchgesetzt wird. Die Parallelen zum damaligen Verhalten kolonialer Mächte sind auffallend und erschreckend. Und sie sind für mich umso verstörender, wenn man bedenkt, welch schreckliche Geschehnisse überhaupt dazu führten, dass die Vorväter der heutigen israelischen Generation Schutz und Heimat in Palästina suchten.

Auf menschlicher Ebene sollten uns daher die Geschehnisse in Palästina alle treffen. Der Israel-Palästina-Konflikt ist ein extrem unverhältnismäßiger, asymmetrischer Konflikt. Während Israel eine von westlichen Mächten unterstützte Atommacht ist, über milliardenschwere Abwehrsysteme, Raketen und flächendeckend über Bunker verfügt und insgesamt militärisch bestens ausgerüstet und finanziert ist, besitzt Palästina nichts Vergleichbares; es kann gar nichts vergleichbares besitzen aufgrund des Besatzungszustandes, in dem es sich seit nunmehr 50 Jahren befindet. Leider fordert dieser Konflikt daher zum größten Teil auf palästinensischer Seite nicht nur unzählige vereinnahmte Grundstücke, zerstörte Häuser und Verletzte, sondern auch unverhältnismäßig viele Tote, von denen der Großteil Zivilisten sind. Genau das sehen wir im Moment. Und es ist absolut erschütternd und unfassbar, das Ausmaß des Leids zu sehen, das von den Palästinensern mehr denn je verzweifelt festgehalten und geteilt wird, um endlich gehört zu werden und auf die Zustände aufmerksam zu machen.

Diese Asymmetrie überlappt sich mit einer aus der zionistischen Ideologie stammenden Einstellung der Überlegenheit und Rechtmäßigkeit, die seit mehreren Jahren auch bei einem großen Teil des israelischen Volkes angekommen ist und christliche sowie muslimische Palästinenser als bedrohliche und minderwertige Gruppe erachtet. Die daraus resultierende spürbare Respektlosigkeit und Diskriminierung gegenüber Palästinensern zeigt sich auf vielen Ebenen. In den letzten Tagen kam sie besonders zum Vorschein, als palästinensische Muslime in den bedeutendsten zehn Tagen des heiligen Fastenmonats auf dem Gelände der Al-Aqsa-Moschee -einer der heiligsten Stätte für Muslime- während des Gebets (!) vertrieben, bedroht und verletzt, Eingänge gesperrt und die Moscheen des Al-Aqsa-Komplexes gestürmt und verwüstet wurden. Als Muslima allein Bilder und Videos davon zu schauen, ist absolut erschütternd- und überschreitet eine Linie des Minimums an Respekt, den jeder Mensch gegenüber einer Religion und ihren Gläubigen haben sollte. Und es zeigt, wie aggressiv und radikal israelische Kräfte ohne verhältnismäßigen Grund oft agieren.

Es ist frustrierend und hart. Noch frustrierender ist es, dass Menschen um den eigenen Ruf oder die eigene Karriere fürchten müssen oder schlichtweg nicht ernst genommen zu werden, wenn man auf dieses Leid aufmerksam macht. Und das ist vor allem in Deutschland der Fall: Politiker werden aufgrund eines Kommentars zu den Missständen in Palästina zu einem Rückzug gedrängt, Experten werden infrage gestellt und als Terroristen bezeichnet, wenn sie sich kritisch gegenüber Israel äußern, und generell jeder als antisemitisch verurteilt, der sich pro Palästina äußert. In den Medien wird Palästina nicht selten als Hauptaggressor oder Auslöser der Eskalation dargestellt und in Bayern sieht man sich genötigt, aus Solidarität eine israelische Fahne an den Mast zu hängen. Gratulieren tut man den Muslimen in Deutschland zeitgleich zum Fest, nachdem man einige Tage zuvor ein Gesetz verabschiedet hat, das in Zukunft hijab-tragenden Muslimas die Arbeit als Beamtinnen verbieten kann. Ich weiß gar nicht mehr, was ich zu all dem sagen soll.

Das alles führt mich immer wieder zu einem Gedanken, der mich nicht loslässt und schwer zu ertragen ist: Alles scheint vor dem Hintergrund solcher Tragödien so wertlos und nichtig, beinah absurd. Unser unbeschwertes Leben, in dem wir uns über grundlegende Menschenrechte, Bomben und unseren Besitz keine Gedanken machen müssen, kommt mir plötzlich so unverdient vor. Mein Lebensstil, meine Prioritäten im Leben, meine Errungenschaften, meine Unzufriedenheiten und mein Kummer- all das scheint keine Rolle zu spielen, wenn ich mich daran erinnere, wie viel großes Leid anderen widerfährt. Es hilft mir dabei, meine Prioritäten und meinen Lebensstil zu überdenken und neu auszurichten. Es hilft mir, mich in meiner Machtlosigkeit Gott zuzuwenden und hinzugeben und Ihm all meinen Kummer preiszugeben. Mein Herz bebt, o Herr! Und nicht nur meins. Ich würde am liebsten aufbrechen zu allen unterdrückten Menschen dieser Welt, vor Ort dabei sein und helfen- doch das ist weder realistisch noch hilfreich; auch wenn es wehtut, sich das einzugestehen.

Am Ende bleibt nur das stete Vertrauen in Gott, in dessen Hände unser aller Schicksal liegt. Lasst uns daher für alle unterdrückten Menschen beten, lasst uns wirklich aus dem tiefsten Winkel unserer traurigen Herzen für sie beten. Lasst uns dafür beten, Recht und Unrecht erkennen zu können und mit all unserer Kraft für das Gute und Richtige einstehen zu können.


Meine Heimat, o Heimat!

Glanz und Schönheit, Ruhm und Ehre

In deinen Hügeln!

Leben und Freiheit, Freude und Hoffnung

In deiner Luft!

Werd‘ ich dich sehen, werde ich?

In Frieden, gesegnet, gesund und geehrt

Werd‘ ich dich sehen, werde ich?

In deiner Hoheit, nach den Sternen greifend

meine Heimat, o Heimat!

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