„Nie wieder“

Einmal die Augen schließen und tief Luft holen. Diesmal klappt es, ich muss es nur schaffen, den Frust und die Trauer für einen Moment beiseite zu schieben und mein inneres Auge vor den unzähligen Bildern und Videos, die ich in den letzten Wochen sah, schließen. „Ist das überhaupt gut?“, hallt es in meinem Kopf. Im Moment ist gar nichts gut. Vor allem in Deutschland nicht. Meine Gefühle sind mein Treibstoff für diesen Text, ich kann und will sie gar nicht ignorieren.

Eigentlich gibt es schon einige Texte wie diese, aber ich finde kein anderes, sinnvolleres Ventil als das hier; denn diesen Text möchte ich einer besonderen Gruppe an Menschen aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis widmen: All jenen, die in Deutschland leben und das Thema Nahost-Konflikt irgendwie „unangenehm“ finden. All jenen, die sich aus der Geschichte heraus verpflichtet fühlen, sich mit Israel bedingungslos zu solidarisieren, aber in den letzten Tagen doch immer stärkere Bauchschmerzen dabei haben. All jenen, die mehr über die Thematik erfahren und beide Perspektiven anhören möchten, um sich selbst ein Bild zu machen. Und letztlich auch all jenen, die beide Perspektiven zu diesem Thema kennen und berücksichtigen, aber nicht genau wissen, wie sie in ihrem Umfeld darüber sprechen sollen.

Darum soll es in diesem Beitrag nämlich gehen, um einen Perspektivwechsel. Und nicht um mehr als das, damit wir das vorab ganz klar machen.

Die deutsche Medienlandschaft zeigt sich in Sachen Nahost-Konflikt leider besonders einseitig und parteiergreifend, was wohl der blutigen Vergangenheit unseres Landes geschuldet ist. Das ist nachvollziehbar, aber ab einem gewissen Punkt inakzeptabel- nämlich genau dann, wenn durch eine bedingungslose Solidarisierung Mechanismen geschützt werden, die zu einer Wiederholung der Geschichte führen.  

Ich lade dich daher zu einem Gespräch ein, das zur Abwechslung die Perspektive und das Leid der palästinensischen Menschen näher in den Fokus rücken- ihre Stimmen werden von der westlichen Welt noch zu wenig gehört und berücksichtigt. Einige Ausschnitte dieses Gesprächs sind an ein reales Gespräch angelehnt, das ich vor einigen Tagen mit einem Kommilitonen führte.

 


 

Du Shirin, wie ist das eigentlich: identifizieren sich Muslime eigentlich auch mit dem Land, in dem sie leben, oder identifizieren sie sich als Muslime nur primär mit anderen Muslimen?

Na selbstverständlich, warum soll es denn einen Unterschied zu anderen Menschen geben? Wir alle können uns ja gleichzeitig zu unterschiedlichen Gruppen zugehörig fühlen und uns mit ihnen identifizieren. Ich kann also Deutsche sein und mich mit Deutschland verbunden fühlen und gleichzeitig Muslima sein und mich mit anderen Muslimen verbunden fühlen. Ich denke, dass nahezu jeder Mensch beide dieser Dimensionen in sich hat und lebt. Sich mit einer Weltanschauung oder Religion zu identifizieren ist in dem Sinne vielleicht umfassender, als dass sie über Nationalitäten hinaus geht und nicht an den Grenzen stehen bleibt.

 

Und wie sieht es dann mit einem islamischen Staat aus? Ist das ein übergreifendes Ziel aller Muslime? Das ist ja beispielsweise bei der Hamas ja auch Teil ihres Ziels bei den aktuellen Angriffen.

Ich denke es reicht aus, einen Blick in die Länder mit muslimischen Populationen zu werfen, um auf die erste Frage zu antworten. Bezüglich deiner Aussage zur Hamas: Ich habe mir mal die aktuelle offizielle Charta der Hamas von 2017 durchgelesen und konnte zumindest darin nichts dazu finden- es ist interessanterweise an keiner Stelle die Rede von einem Ziel, einen „islamischen Staat“ zu gründen. Dieser Begriff ist hier auch irreführend, weil er im deutsch- und englischsprachigen Raum meistens mit dem IS oder Al Qaida in Verbindung gebracht wird- Gruppierungen, die international agieren und sich dadurch auch inhaltlich deutlich unterscheiden. Wenn wir uns die Entstehungsgeschichte der Hamas und auch anderer palästinensischer Befreiungsbewegungen anschauen, so haben alle eines gemeinsam: sie sind nationale Bewegungen und entstanden allesamt aus dem Wunsch heraus, sich von der israelischen Besatzung zu befreien. In der Charta der Hamas ist dieser Punkt als Hauptziel festgehalten. Die aktuelle Offensive der Hamas muss demnach vor allem in diesem Kontext verstanden werden.

 

Aber sowas ist doch kein Akt der Befreiung, das ist ein Angriff und obendrein mit einer brutalen Gewalt…

Gewalt führt immer zu unsagbarem Leid und muss wann immer es möglich ist vermieden und verhindert werden, da stimme ich dir vollkommen zu. Vor allem ist jede Gewalt gegen unschuldige Zivilisten inakzeptabel und zu verurteilen, da gibt es keine Ausnahme. Für eine angemessene Einordnung ist es aber wichtig, den geschichtlichen Kontext zu berücksichtigen und zu untersuchen, ob es einen Auslöser für diese Gewalt gab. So etwas passiert selten ohne eine Vorgeschichte, und eine solche gibt es im Israel-Palästina-Konflikt definitiv. Ich hole mal ein bisschen weiter mit ein paar offiziellen Fakten aus:

  • Spätestens seit der Proklamation des israelischen Staates und des Siegs Israels im Nahostkrieg 1948 wurde das palästinensische Volk im Zuge der Gebietsausweitung Israels vermehrt aus den ihnen durch den UN-Teilungsplan zustehenden Gebieten völkerrechtswidrig verdrängt und gewaltsam vertrieben. Mehr als 700.000 Palästinenser flüchteten während des Krieges außerdem in die umliegenden Nachbarstaaten, eine Rückkehr wird ihnen und ihren Nachkommen bis heute vonseiten Israels verwehrt. Deshalb bezeichnen Palästinenser dieses Ereignis als „Nakba“, als „Katastrophe“. Ein großer Teil der Binnenflüchtlinge von 1948 floh in die Region des Gaza-Streifens. Die Flüchtlingsviertel im Gaza-Streifen zählen bis heute zu den am dichtesten besiedelten Regionen der Erde.
  • Nach dem Sieg des Sechs-Tage-Kriegs, den Israel selbst mit einer Offensive startete, besetzte Israel im Jahr 1967 nicht nur angrenzende ägyptische und syrische Gebiete, sondern auch alle verbliebenen palästinensischen Gebiete: Das Westjordanland, Ost-Jerusalem und den Gazastreifen.
  • Die militärischen Siege Israels bestärkten die zionistische Siedlerbewegung innerhalb des Landes, welche spätestens seit der Machtübernahme der rechtsgerichteten Likud-Partei offen an der strategischen Besiedlung palästinensischer Gebiete arbeitete und politisch unterstützt wurde. Die verbliebenen von Palästinensern bewohnten Gebiete wurden seit jeher durch verschiedene Baumaßnahmen und Regelungen größtenteils voneinander und vom Rest des Landes abgeschottet.
Ausschnitt einer betonierten Mauer, die Gaza teilweise umschließt. JACK GUEZ/AFP/Getty Images.
  • 1995 errichtete Israel eine Betonmauer und Elektrozäune um den gesamten Gazastreifen, 2002 eine Sperranlage um Teile des Westjordanlands, die das palästinensische Gebiet des Westjordanlandes noch einmal um ca. 13% verkleinerten. Bis heute sind die palästinensischen Gebiete von Israel besetzt. Das bedeutet für das palästinensische Volk, insbesondere für die Bewohner Gazas seit spätestens 2007:
Überblick über die umfassende Abschottung des Gaza-Streifens. UNRWA, 2019.
  • Israel hat vollste Kontrolle über alle Land-, Luft- und Seewege und entscheidet über die Mobilität der Palästinenser. Es gibt lediglich drei Checkpoints in ganz Gaza, zwei davon kontrolliert Israel- genauso wie die gesamte Elektrizitäts-, Lebensmittel- und Medikamentenzufuhr.
  • Israel bezieht ein Drittel seiner Wasserversorgung aus besetzten palästinensischen Gebieten und verfügt gleichzeitig über die Kontrolle der Wasserzufuhr in den besetzten Gebieten.
  • Gaza befindet sich seit einigen Jahren in einem solch schlechten Zustand, dass die UN in einem Bericht von 2015 davor warnte, dass der Gazastreifen ab 2020 als unbewohnbar einzustufen ist.

 

Es ist auf jeden Fall kein schöner Ort zum Leben und auch nicht richtig, die Palästinenser so zu behandeln…

Jetzt stell dir mal vor: Du lebst seit Jahrzehnten in einer der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt und kannst diese nicht oder nur mit großem Glück in besonderen Fällen verlassen. Dabei lebst du nur wenige Kilometer von deinem ursprünglichen Heimatort entfernt, welcher nun durch israelische Siedler bewohnt wird und nicht von dir betreten werden darf. Seit Jahrzehnten wird jede Art des friedlichen Protests geahndet, tausende Palästinenser, darunter auch Minderjährige, verhaftet. Weder Verhandlungsangebote noch friedliche Proteste oder gar Hungerstreiks haben eine Änderung gebracht, ganz zu schweigen die Hilfe anderer Staaten. Immer wieder kommt es zu unverhältnismäßig vielen Todesopfern auf palästinensischer Seite, Gegengewalt wird mit Kollektivstrafen und Bombardierungen dicht besiedelter Gebiete bestraft. Währenddessen entwickelt sich die israelische Regierung immer weiter in eine nationalistisch-rechte Ecke, die offen und aktiv den Siedlungsbau unterstützt und eindeutig rassistische, anti-palästinensische Tendenzen besitzt. Letzteres wurde in den schockierenden Aussagen der letzten Tage und Woche wieder besonders deutlich.

 

„Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff, alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen Tiermenschen, und wir handeln dementsprechend“

Yoav Gallant, Verteidigungsminister Israels, 09. Oktober in einer Fernsehansprache

 

„Jetzt gibt es nur ein Ziel: Nakba! Eine Nakba in Gaza, die die Nakba von 48 in den Schatten stellen wird.“

Ariel Kallner, Knesset-Abgeordneter der Regierungspartei Likud, 07. Oktober 2023 auf X (Twitter)

 

Es ist zumindest keine Überraschung, dass unter solchen Umständen Gruppierungen entstehen, die Gewalt als Mittel nutzen, um eine Befreiung aus der Besatzung zu erreichen oder mit Nachdruck darauf aufmerksam zu machen. Eine solche Entwicklung war abzusehen und ist meiner Meinung nach ein Risiko, dass Israel mit seiner Politik bewusst eingegangen ist. Man kann 2,2 Millionen Menschen nicht über einen derart langen Zeitraum grundlegender Rechte berauben, klein halten und erwarten, dass sich die Menschen damit abfinden. Aus Sicht der betroffenen Menschen handelt es sich daher weniger um einen Angriff, der aus dem nichts kommt, sondern um eine Antwort auf die Jahrzehnte andauernde Besatzung und Unterdrückung der Menschen im Gaza-Streifen, nenn es ruhig eine Selbstverteidigung gegen die täglichen Aggressionen, die sich aufsummiert haben und das Fass zum Überlaufen gebracht haben.

 

Aber wenn man selbst Gewalt anwendet, ist man mindestens genauso schlecht wie die andere Seite, man begibt sich auf ihr Niveau… Und dass man die Geiselnahme von Zivilisten oder das Köpfen von Babies als „Selbstverteidigung“ rechtfertigt, finde ich schockierend und falsch.

Zu deinem ersten Punkt:

Ich glaube, wir sind nicht in der Position, um eine derartige „moralische“ Bewertung abzugeben; schließlich konnten wir in Sicherheit aufwachsen und werden nie ganz begreifen, was es bedeutet, unter solchen Umständen zu leben. Ich glaube aber an das Völkerrecht und somit auch daran, dass jedes Volk ein Recht auf Selbstverteidigung hat- auch wenn es im schlimmsten Falle als allerletzte Option in Form von Gewalt passieren muss. Natürlich ist es aber ein Unterschied, welche Art von Gewalt man nutzt und an wen sie gerichtet ist. Städte zu bombardieren und den Tod von Zivilisten in Kauf zu nehmen ist natürlich nicht dasselbe wie beispielsweise Militärstandorte oder Grenzzäune anzugreifen. Über die Art und Weise muss man also definitiv diskutieren.

Eine Frage habe ich aber: Wieso hinterfragen wir eigentlich nur, ob die Gewalt der Hamas gerechtfertigt ist ohne gleichzeitig zu hinterfragen, ob die Gewalt Israels gerechtfertigt ist? Schließlich liegt darin die Haupt-Konfliktursache verborgen- ohne Besatzung gäbe es auch keine Gruppen, die sich dagegen wehren. Die Hamas ist „nicht aus einem Vakuum entstanden“, wenn man es in den Worten des UN-Generalsekretärs Guterres formulieren will. Darüber hinaus sind die Grenzen einer verhältnismäßigen „Selbstverteidigung“ vonseiten Israels schon erschreckend weit überschritten, das haben mittlerweile auch westliche Staaten wie bspw. Norwegen erkannt. Versteckt sich da wieder eine leichte, unbewusste Einseitigkeit in unserem Denken?

Zu deinem zweiten Punkt:

Erst einmal handelt es sich bei der Geschichte mit den geköpften Babies um eine Falschmeldung, die selbst vonseiten Israelischer Medien zurückgewiesen wurde. Es ist extrem wichtig, sich gut zu informieren und sich bewusst zu sein, dass gerade in Kriegszeiten Falschinformationen bewusst gestreut werden, um die Sympathie der Menschen für sich zu gewinnen, eine ungewisse Faktenlage im Sinne eines „Fog of War“ zu schaffen und unverhältnismäßige Aggressionen zu legitimieren. Und da hat natürlich im Allgemeinen die Partei mit der besseren Infrastruktur und finanziellen Mitteln immer die bessere Karte. Bezüglich der Geiselnahme von Zivilisten sind wir uns einig, dass es auch mit dem Argument einer Selbstverteidigung nicht zu rechtfertigen ist. Ich möchte dir aber auch diesbezüglich einen Kontext geben, der hier als Perspektive wichtig ist:

Die Hamas lebt und agiert im Gaza-Streifen, welcher seit fast 17 Jahren unter einer umfassenden Blockade durch Israel lebt. Waffen sind daher nicht verfügbar und können höchstens geschmuggelt oder selbst hergestellt werden- was die Hamas auch beides tut. Die Artillerie der Hamas ist jedoch aufgrund dieser Umstände im Vergleich zu der militärischen Ausrüstung der israelischen Armee, welche zu der best-ausgerüstetsten der Welt gehört, stark unterlegen.

Hinzu kommt, dass das palästinensische Volk im Allgemeinen über keine eigene Luftwaffe, Bodentruppen oder sonstige Einheiten verfügt, da alle Gebiete bekanntermaßen unter Israels militärischer Kontrolle liegen. Es ist also eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, dass die Hamas allein einen „Krieg“ gegen Israel gewinnt. Für die Hamas werden aufgrund dieser Umstände auf zusätzliche Mittel zurückgegriffen, um realen Druck auf Israel auszuüben und Verhandlungen auf Augenhöhe zu erzwingen. Diese sind nämlich im Normalfall in den letzten Jahren nicht möglich gewesen, weil Israel sein Existenzrecht zur Bedingung für Verhandlungen macht, während die Hamas diese Anerkennung ohne Zugeständnisse Israels nicht als Prämisse akzeptiert. Beide Seiten sind da recht stur. Dass es sich nicht um ein Verhältnis auf Augenhöhe handeln kann, wird auch unweigerlich dadurch deutlich, dass es sich um Besatzer auf der einen und um die Besetzten auf der anderen Seite des Tisches handelt- der eine kann durch Androhung von Strafen und Sanktionen fordern, der andere nicht. Die Hamas nimmt also ganz bewusst Geiseln, um damit „fordern“ zu können.

 

Neue Gewalt stößt aber nur wieder eine neue Gewaltspirale an, bei der nichts Konstruktives bei rauskommen wird… Bewusst sich gegen Gewalt zu entscheiden, auch wenn einem selbst Gewalt widerfährt, das ist doch das, was uns menschlich macht.

Ich finde generell, dass -unabhängig vom aktuellen Konflikt- Gegengewalt nicht zwingend zu weiterer Gewalt führen muss oder per se abzulehnen ist. Gewalt ist ja teilweise sogar Teil unserer Justiz- sei es bspw. in Form von Verhaftungen, Freiheitsstrafen oder Notwehr. Das alles sind unterschiedliche Weisen, wie mit Aggressionen und Fehlverhalten im schlimmsten Falle umgegangen werden kann oder muss. Das kann man auch übertragen auf militärische Gewalt als Reaktion auf Aggressionen. Ich behaupte mal, dass wir in Deutschland ja auch gewissermaßen „erleichtert“ darüber sind, dass Hitlers Machenschaften im zweiten Weltkrieg ein Ende gesetzt wurde. Dafür war Gewalt leider notwendig, weil er sich wohl kaum auf andere Art und Weise hätte aufhalten lassen . Und seitdem ist ja auch in diesem Ausmaß keine vergleichbare Auseinandersetzung mehr aufgetreten in unserer Region. Oder würdest du Gewalt auch in solchen Fällen ablehnen? Würdest du sagen, dass es grundlegend falsch und „unmenschlich“ ist, mit Gegengewalt gegen Systeme wie Apartheid in Südafrika oder Regierungen wie die Hitlers vorzugehen? Diese Fragen sind philosophischer Natur und es gibt verschiedene Antworten darauf, ich finde es schwierig, eine davon kategorisch abzulehnen.

Momentan wird viel über den Begriff „Selbstverteidigungsrecht“ gesprochen. Wenn, dann muss dieses Recht auch jedem Volk der Erde zugesprochen werden, das in irgendeinerweise Aggressionen erfährt. Eine Besatzung durch Israel mit all ihren Konsequenzen- das ist ja auch Gewalt, und zwar eine, die über einen sehr langen Zeitraum geht und sich in allen Bereiche des Lebens der Palästinenser niederschlägt. Dass es sich dabei um eine von Experten anerkannte Tatsache handelt, wird durch Berichte der UN, Human Rights Watch und Amnesty International usw. klar. Sie alle bezeichnen die Behandlung des palästinensischen Volkes als Aggression, kolonialistische Unterdrückung oder gar als „Apartheid“.

 

Bei Anwendung von Gegengewalt muss man dann aber auch damit rechnen, dass es dem eigenen „Ruf“ als unterdrücktes Volk schadet und man sich unbeliebt macht- auch wenn man womöglich wirklich im Recht ist.

Daran sieht man ganz gut, dass wir mit zweierlei Maß messen: Anstatt die andauernde Besatzung und Unterdrückung Israels als verantwortlich für diese Ausschreitung anzuerkennen und zu kritisieren, erwarten wir ausschließlich von palästinensischer Seite „gemäßigtes“ Verhalten- und machen sie selbst für ihr Schicksal und Leid verantwortlich, in dem wir sie für die Handlungen der Hamas kritisieren. Wir sollten einmal bewusst reflektieren, ob wir von beiden Partien dasselbe verlangen, mit dem selben Maßstab messen, oder ob sich doch eine gewisse Blindheit für die Fehler der einen Seite eingeschlichen hat.

Abgesehen davon: Dass die Hamas auf derartige Mittel zurückgreift und auch der „Ruf“ keine Rolle spielt, zeigt ja, wie verzweifelt und ohnmächtig sich die Menschen dort fühlen. Wie sehr die israelische Blockade ihnen zusetzt- so sehr, dass sie denken, dass sie nicht mehr viel zu verlieren haben, wenn sie sterben. Dass sich Menschen in einem solchen Zustand befinden, ist allein schon alarmierend. Und dafür trägt Israel als Besatzungsmacht in meinen Augen volle Verantwortung.

 

Aber durch die Angriffe erzeugen sie ja noch mehr Leid für sich selbst. Sie werden ja nicht gewinnen, was bringt denn das Ganze? Eine mögliche Lösung ist dadurch in weite Ferne gerückt.

Mit all den Hintergrundinformationen, die ich bis jetzt gegeben habe, würde mich interessieren, welche alternativen Handlungsmöglichkeiten du den Palästinensern vorschlagen würdest.

Für viele dort ist das, was sie seit langer Zeit durchleben, bereits die Hölle. Dass Gaza beschossen und bombardiert wird, dass es Kollektivstrafen gibt. Dass immer wieder Zivilisten willkürlicher Polizeigewalt ausgesetzt sind und tausende aus geringsten Anlässen zur Einschüchterung inhaftiert werden. Dass die palästinensischen Muslime und Christen nicht ungestört und friedlich in ihren heiligen Stätten beten und feiern können, nicht in ihren Heimatorten leben können. Dass Gaza seit fast 17 Jahren unter einer militärischen Blockade zu überleben versucht, mit einer erschreckend hohen Arbeitslosenquote und wenig Bildungsmöglichkeiten. Man könnte hier noch so einige Punkte aufzählen, so einige Menschenrechtsorganisationen und bedeutende Friedensaktivisten zitieren, die vor Ort waren.

Viele Menschen kommen unter solchen Lebensumständen selbstverständlich an ihre Grenzen und denken sich: Ich habe schon so viel verloren, ich habe nichts mehr zu verlieren. Das einzige, was in ihren Augen noch gewonnen werden kann, ist die Freiheit. Und deshalb wird man vermutlich auch kaum jemanden in Gaza finden, der sich über die Hamas beschwert und sie für diese Katastrophe verantwortlich macht; und kaum jemanden, der freiwillig sein Haus räumt, den Norden Gazas oder gar das Land verlassen würde (abgesehen davon, dass es gar nicht möglich ist momentan). Viele Palästinenser sprechen auch davon, dass sie sich nicht noch einmal vertreiben lassen wollen und dafür auch ihren eigenen Tod in Kauf nehmen. Denn auch wenn sie sich fügen, indem sie beispielsweise mit einem Konvoi gen Süden Gazas flüchten, ist das Risiko hoch, durch den großflächigen israelischen Beschuss zu sterben oder sein Hab und Gut durch eine mögliche Besatzung des Gaza-Nordens zu verlieren.

 

Das mit der Bombardierung des Fluchtkonvois war doch die Hamas, nicht Israel. Und die Hamas nutzt Zivilisten als menschliche Schutzschilde.

Nein, das ist auch wieder eine Falschinformation. Der Fluchtkonvoi bildete sich, wie angewiesen, um Zivilisten in den „sicheren“ Süden zu evakuieren und fuhr auf einer der beiden Routen, die als sichere Route durchgegeben worden war. Genau auf dieser Route wurde der Konvoi auf halber Strecke von israelischen Raketen getroffen, ca. 70 Personen starben dabei, darunter viele Kinder. Und wenn wir schon Zahlen und Fakten sind: Bisher wurden mehrere Moscheen und auch Kirchen, UN-Schulen und mehrere Krankenhäuser durch Angriffe zerstört oder beschädigt, ganz zu schweigen von ganzen Wohnkomplexen. In den letzten zwei Wochen schaffte Israel es, knapp 50 Familien gänzlich aus dem Namensregister auszulöschen, weil ausnahmslos alle Familienmitglieder, die diesen Namen trugen, getötet wurden. Die umfassende Sperre humanitärer Hilfe, das Abschneiden von Wasser, Elektrizität, Lebensmitteln und Kommunikationswegen sowie der Einsatz von weißen Phosphorbomben sind offizielle Kriegsverbrechen, die schwerstwiegende Folgen für die Bevölkerung in Gaza haben.

Um einen kleinen Eindruck zu gewinnen was das konkret am Beispiel eines Krankenhauses bedeutet:

  • Krankenhäuser müssen unter extrem erschwerten Bedingungen arbeiten, teilweise mit Handylicht und ohne angemessene Anästesie behandeln und sogar operieren.
  • Verletzte und Verschüttete können wegen mangelnden Empfangs weder ihre Familie noch den Notruf erreichen, um gerettet zu werden.
  • Auf lebenserhaltende Maschinen oder Medikamente angewiesene Patienten – beispielsweise Frühgeborene in Inkubatoren – sind in besonderem Maße einem massiven Sterberisiko ausgesetzt.
  • Nahezu jedes Krankenhaus in Gaza ist überlastet, viele Verletzte werden auf dem Boden behandelt, viele Tote in Zelten oder gar Kühl-LKWs vor dem Krankenhaus gelagert.
  • Auch Krankenhäuser selbst oder ihre unmittelbare Umgebung werden bombardiert oder beschädigt; Transportwege für Rettungswagen werden zerstört und erschweren das Erreichen und Versorgen der Verletzten.

Diese Punkte zeigen nicht nur, wie asymmetrisch dieser Konflikt zwischen Besatzer und Besatztem ist, sondern vor allem auch, wie erschreckend er sich gegen unschuldige Zivilisten richtet: Allein in Gaza wurden bisher 8005 Menschen getötet (Stand 29.10.23), davon waren 3324 Kinder und 2062 Frauen. Fast die Hälfte aller Opfer also Kinder. Wenn man das hochrechnet, stirbt also im Durchschnitt alle 10 Minuten ein palästinensisches Kind.

Zu deiner Behauptung über die Hamas drehe ich wieder den Perspektiv-Spieß um, man kann es auch so sehen: Israel nimmt unter dem Vorwand, die Hamas zerstören zu wollen, schwere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen an Zivilisten in Kauf. Die Maßnahmen, die sie ergreifen, erinnern vor allem in den letzten Tagen an einen versuchten Genozid an den Palästinensern im Gazastreifen. Zumindest haben sich so namhafte Genozidforscher, Politiker, Organisationen wie die UN, HRW, Amnesty, Jüdische Stimme, Jewish Voice for Peace und auch unzählige Israelis selbst zu den Aktionen der israelischen Regierung positioniert. Von kritischen Stimmen kriegen wir in Deutschland aber leider sehr wenig mit. Und wenn doch, dann werden sie durch verschiedene Maßnahmen fast ausnahmslos zunichte gemacht- das besorgt mich enorm.

 

Ich denke, das hängt mit unserer Vergangenheit zusammen und das kann ich auch verstehen. In Deutschland ist das ein heikles Thema, da will keiner was falsches sagen oder für Unmut sorgen. Das sieht man ja auch momentan an den Demonstrationen, die teilweise verboten werden.

Ich kann den Gedanken definitiv nachvollziehen. Aber gerade die Tatsache, dass wir in Deutschland diese bestimmte Vergangenheit haben, sollte meiner Meinung nach ein wichtiger Antrieb für eine unvoreingenommene und neutrale Berichterstattung sein. Wie können wir uns sonst ein Bild davon machen, was gerecht und was ungerecht ist? Ich muss sagen, genau dieser Gedanke ist für mich besonders verstörend: Dass eine auf Schuld begründete, zwanghafte Solidarität uns dazu bringt, fatale Ungerechtigkeiten zu rechtfertigen und am Ende des Tages ein zweites Mal in der Geschichte auf der Seite der Unterdrückung stehen. Ich fürchte mich davor, dass „Nie wieder“ nur eine leere Floskel bleibt, die nur für bestimmte Gruppen, bestimmte Menschen gilt. Deutschland befindet sich da auf einem erschreckenden Kurs. Nicht nur in der Berichterstattung, sondern auch in der Außenpolitik. Es sind Aussagen gefallen, bei denen mir die Kinnlade heruntergefallen ist. Ich habe den Eindruck, dass die deutsche Regierung sich da momentan in eine blinde Solidarität hineinsteigert und jegliche Kritik oder Alternativmeinung mit einer nie da gewesenen Härte ahndet. Dass Demonstrationen aus Präventionsgründen verboten werden, ist äußerst fraglich. Als Demokratie müssen wir andere Meinungen aushalten können.

 

Es ist ja auch aus Sicherheitsgründen und um die Stimmung im Land nicht zu kippen. Viele Juden fühlen sich dadurch auch bedroht.

Wenn es um die Stimmung und Sicherheit geht, müssten auch konsequenterweise pro-israelische Demonstrationen präventiv verboten werden. Denn es gibt auch sehr viele Palästinenser in Deutschland, die täglich Familienmitglieder verlieren und um andere bangen, ihrem Alltag kaum normal nachgehen können. Ich habe auch kopftuchtragende muslimische Freundinnen, die in den letzten Tagen als „Terrorschlampe“ beschimpft wurden oder doch „in den Krieg ziehen und dort mit den anderen sterben“ sollten. An sie wird nicht gedacht, das finde ich unfair. Also entweder man lässt beides zu oder man verbietet präventiv beides. Letzteres ist aber kaum mit dem Gesetz vereinbar und daher auch sehr kritisch zu sehen. Straftaten wie antisemitische, aber auch antimuslimische und antiarabische Parolen kann und muss man dennoch ahnden, das finde ich auch wichtig.

Jüdische Bürger demonstrieren in der Grand Central Station gegen israelische Gewalt, New York City. (Kena Betancur/AFP)

Klar ist: Antisemitismus hat rein gar nichts in der Meinungsäußerung zum Nahostkonflikt zu suchen und muss bestraft werden. Es ist eine Schande, dass einige Menschen immer noch nicht zwischen Kritik an Israel bzw. an der zionistischen Ideologie und Antisemitismus differenzieren können und ihre Wut unberechtigterweise auf jüdische Menschen lenken. Aber genauso ist es eine Schande, Menschen Antisemitismus zu unterstellen, wenn sie berechtigte Kritik an Israel äußern. Wie absurd das ist, wird deutlich, wenn jüdische oder israelische Menschen selbst Kritik an Israel üben. Und davon gibt es so einige.

 

Kritik ist okay, solange sie nicht Gewalt rechtfertigt, dabei bleibe ich. Denn ich bin trotzdem tief davon überzeugt davon, nicht mit Gewalt auf Gewalt zu antworten. Das ist das, was ich als Botschaft Jesu verstehe. Es mag vielleicht naiv sein.

Das finde ich auch vollkommen okay, solange du deine Überzeugung nicht auch anderen aufzwingst, die vielleicht zu einem anderen Schluss kommen und ihr Leiden nicht weitere Jahrzehnte über sich ergehen lassen können und wollen- abgesehen davon, dass ich mir fast sicher bin, dass du in derselben Situation ähnlich handeln würdest. Es ist einfach, aus sicherer Entfernung über Szenarien zu sprechen, die uns vermutlich nie treffen werden, aber umso schwerer, dann entsprechend der eigenen, meist naiven Idealvorstellungen zu handeln. Das ist ein Problem der westlichen Welt- wir konnten uns bis heute nicht bewusst von den Fesseln der vermeintlichen moralischen „Überlegenheit“ befreien- ein Artefakt aus unserer Vergangenheit als Kolonialmächte und etwas, das sich bis heute in unser Denken einschleicht, auch wenn wir uns dessen meistens nicht bewusst sind und es nicht beabsichtigen. Auch darüber sollten wir nachdenken und unsere eigenen Ansichten kritisch reflektieren.

Vermutlich sehen wir auch daher, dass sich vor allem Länder, die in ihrer Geschichte selbst Erfahrung mit Besatzung, Kolonialisierung und Unterdrückung gemacht haben, sich seit Jahren vehement für Palästina eingesetzt haben und deutliche Worte finden- unter anderem beispielsweise Südafrika, Algerien, Yemen und gar Irland. Aber auch viele andere Politiker oder Regierungschefs wie beispielsweise aus Brasilien, Spanien und Norwegen haben in den letzten Tagen klare Kritik an Israel geäußert.

Ich finde es übrigens sehr schön, dass du dich in deiner Werteorientierung auf Jesus berufst. Die Welt wäre ein besserer Ort, wenn das mehr Menschen tun würden… Letztens habe ich übrigens einen interessanten Beitrag gelesen, in dem ein christlicher Pfarrer sinngemäß folgendes äußerte: Jesus war auch ein Palästinenser, und auch er wurde vertrieben. Wenn wir unsere Liebe zu Jesus ernst nehmen, dann hätten wir um jeden Preis verhindert, dass er Unterdrückung erfährt. Und deshalb ist es auch unsere Pflicht, heute für die Menschen in Palästina einzustehen. Fand ich sehr inspirierend, diesen Gedanken. Auch deshalb, weil nicht nur Muslime, sondern ebenso palästinensische Christen unter den Repressionen leiden und in Gaza leben bzw. sterben.

 

Ja, eine interessante Perspektive. Ich hoffe einfach, dass dieses unendliche Leid so schnell wie möglich ein Ende findet und die Menschen Ruhe finden können.

Ja, das hoffe ich auch aus tiefstem Herzen. Lasst uns für die Menschen beten und nicht nur hoffen, sondern aktiv dazu beitragen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt und auch die palästinensische Perpsektive lautstark gehört wird. Jede eigene Recherche, jedes Gespräch und jeder Einsatz zählt!

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