100 Tage Entfremdung

Tag 100. Tag 100 und mehr als 75 Jahre. Mein Inneres so aufgewühlt wie noch nie, ein Karussell aus Trauer, Fassungslosigkeit, Wut und voranschreitender Entfremdung. Mehrere Blogposts habe ich schon seit dem letzten Mal angesetzt, keinen einzigen konnte ich fertig bringen. Die schiere Flut aus Informationen und Gedanken, die ich teilen wollte, hat mich immer wieder einfach überrollt und gelähmt zurückgelassen. Dieses Gefühl der Ohnmacht, der Hilfslosigkeit: Es hat in letzter Zeit vielen von uns Menschen innerlich zerfressen und uns vor die Nase gehalten, wie klein und uninteressant unsere Stimmen doch sind. Wie unglaubwürdig und verdächtig alles erscheint, was wir sagen oder tun. Wie unwahr und ungebildet alles klingt, was wir von uns geben. Wie unsere verzweifelten Schreie nach Gerechtigkeit und Einsatz an tauben Wänden abprallen, unsere vielen Stimmen stummgeschaltet scheinen.

Zum ersten Mal in meinem Leben traf mich die Realität dieses Gefühls so hart und so deutlich. Und noch nie habe ich aufgrund eines solchen Gefühls einen solch realen Schmerz verspürt. Das ist der Schmerz der brutalen Realität, von der ich bisher immer ein naiv-optimistisches Bild hatte.

Und er trifft vor allem jene, die nicht-weiß sind. Und jene, die in ihrer eigenen Familiengeschichte Unterdrückung, Besatzung, Vertreibung und ethnische Säuberung durch privilegierte Mächte erfahren haben. Zum ersten Mal spüre ich so etwas wie ein generationenübergreifendes Trauma, das sich gewaltsam einen Weg an die Oberfläche meines Bewusstseins geschlagen hat. Aufgebracht pulsierendes Blut, das mir sagen will: Die Geschichte deiner Vorfahren fließt auch durch deine Adern! Du hast all das, was du gerade in den Medien siehst, auch schon miterlebt, mitgefühlt! Ihr Leid ist das Leid deiner Familie und das Leid deiner Familie ist dein Leid…

Dieser Gedanke zerriss mir mein Herz und entflammte, als ich ein Foto meiner Großeltern sah, das meine kleine Schwester gemacht hatte. Darauf sah man sie auf dem Familiengrundstück im Süden LibanonsOliven von den gepflanzten Bäumen pflücken und glücklich in die Kamera lächeln. Oliven pflücken und zu etlichen Produkten verarbeiten- es gibt kaum eine ältere Tradition in der gesamten levantinischen Region.  Ihr Lächeln wurde schnell auch mein Lächeln- doch es wurde bald abgelöst von schweren Tränen, als in mir Bilder von palästinensischen Bauern hochkamen, wie sie weinend neben ihren von Israelis zerstörten Olivenbäumen kauerten, die sie jahrzehntelang aufgezogen haben. Wie viel mehr doch ihre schmerzenden Gesichter betrauern, ich kann es sehen, ich kann es durch das Bild hindurch spüren! Nicht nur zerstörte Bäume sind das. Zerstörte Leben. Mit Füßen getretene Kultur. Zu vernichten versuchter Stolz und Identität…

Ich sah in diesen palästinensischen Bauern plötzlich auch das Schicksal und Leid meiner Großeltern, dasselbe Trauma, dieselbe Geschichte. Fest miteinander verbunden- mehr denn je. Ich sah zum ersten Mal auch mich selbst darin- als Bürgerin eines Landes, das zum einen ebenjene Unmenschlichkeiten moralisch und finanziell unterstützt und zum anderen Teile seines eigenes Volkes aus derselben Arroganz heraus in eine Ecke drängt und diskriminiert. Dasselbe, Trauma, dieselbe Geschichte; sie wiederholt sich schon wieder, auf mehreren Ebenen.

Drei Wochen vor dem 7. Oktober stand ich noch dort, im Grenzgebiet zu Israel, am Meer der Naqoura. Zum ersten Mal wieder seit sieben Jahren auf dem Boden meiner Heimat. Frische und alte Erinnerungen mischen sich und Bilder kommen hoch: die Aussicht vom Balkon unseres Familienhauses nicht weit von Sour, von wo aus bei guter Sicht die Grenze zu sehen war; der große Krater vor dem Haus, der durch eine nicht detonierte, israelische Rakete 2006 erzeugt wurde; die großen Schäden am Haus, die durch Bombensplitter erzeugt wurden; die Namen von nahen Verwandten und Bekannten, die durch israelische Hand verletzt, getötet oder gar entführt wurden; die Geschichten meines Vaters und seiner Geschwister, die ihre Kindheit in Kriegszeiten verbrachten, insbesondere die fast beiläufige Erzählung meiner Tante, die sich letztens an einen beängstigenden Moment als Kind im Krieg erinnerte, als sie Bilder aus Gaza sah; die heruntergekommenen palästinensischen Flüchtlingsviertel; die verrosteten Eisenbahnschienen, die einst Beirut mit Jerusalem verbanden und von einer blühenden Vergangenheit erzählten; und schließlich das tosende, weite Meer, das uns zu Kindern desselben Wassers machte. Zu Kindern desselben Schicksals, derselben israelischen Gewalt.

Mehr denn je zerfrisst mich die Tatsache, dass jenen Menschen, die selbst Unterdrückung erfahren haben und wissen, wovon sie sprechen, nicht geglaubt wird. Dass sie nicht ernst genommen und nicht gehört werden. Dass man sie lästig oder unangenehm findet. Dass irgendetwas an der von ihnen erzählten Version nicht stimmen kann. Dass man sie nicht ernst nimmt, weil sie einen Akzent haben, arm sind oder nicht so gekleidet sind wie erwartet oder gewollt. Dass ihre Stimmen keine Rolle spielen, weil sie keine Macht haben oder sich durch jahrelange Manipulation als machtlos erachten.

Und mehr denn je macht es mich wütend zu sehen, welch Doppelmoral in vielen steckt. Auch unter Freunden und Bekannten, die sehr wohl für diese Thematik sensibilisiert sind, aber sich dennoch bisher kein einziges Mal zu dieser menschlichen Tragödie geäußert haben. Nicht mal mit einem kleinen Post oder einer kleinen Nachricht. Es verwirrt mich zu sehen, wie langjährige Freunde, Familie und Bekannte vor einigen Jahren offen die Ukraine-Flagge oder ein schwarzes Profilbild teilten und an Demos teilnahmen, um auf Leid und Unterdrückung aufmerksam zu machen, aber sich nun bedeckt geben, weil es diesmal nicht „im Trend“ ist, diese Meinung zu äußern. Es zeigt, wie opportunistisch und heuchlerisch die Moral vieler doch noch ist- entstanden aus dem wertvollen Privileg der Sicherheit und des Reichtums, dessen schwerwiegende Verantwortung verkannt wurde.

Heute sind es 100 Tage. 100 Tage voller Schmerz und voller Traumata, die all jene Traumata der letzten Jahrhunderte wieder heraufbeschwören. Denn sie alle sind miteinander verbunden, sie alle sind durch dasselbe Muster der Arroganz entstanden. Wer im jahrzehntelangen Leid der Palästinenser nicht das Leid der Südafrikaner, der europäischen Juden, der Indigenen Amerikas, der muslimischen Bosnier und all den weiteren unzähligen unterdrückten Völkern und Gruppen dieser Welt wiedererkennt, der ist ungerecht und selektiv, hat aus der Geschichte nicht den innersten Kern mitgenommen: Die Geschichte aller Menschen fließt durch unsere Adern. Das Trauma aller Unterdrückten fließt in unseren Adern, brennt sich in unser Gedächtnis ein. Wir müssen gerade diesen Menschen zuhören, und ihnen dazu verhelfen, dass ihre Stimme gehört wird und dass sie eben nicht untergeht oder klein gemacht wird. Das bedeutet auch, mutig zu sein. Es bedeutet, kompromisslos für die eigenen Prinzipien einzustehen und sich nicht für die eigene Identität in irgendeiner Art und Weise zu schämen und lauter denn je die eigene Stimme nach außen zu bringen. Denn auch sie zählt wie jede andere, ihre Geschichte zählt wie jede andere.

Lasst uns nicht vergessen, dass wir Zeitzeugen einer historischen Zeit sind, die als Versagen der Menschheit, insbesondere als Versagen westlicher Mächte wie der USA und Deutschland in die Geschichte eingehen wird. Es ist an der Zeit, gemeinsam laut zu werden, unsere Trauer und unseren Schmerz auf die Straße, in die sozialen Medien, in unsere Herzen bringen und daraus gemeinsam etwas Bedeutendes zu schaffen. Ob es uns direkt betrifft oder nicht- erinner dich: Der Mensch ist eins- was dich trifft, trifft mich!

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